Film-Magazin Vereinigt Mit Filmwelt (1929)

Record Details:

Something wrong or inaccurate about this page? Let us Know!

Thanks for helping us continually improve the quality of the Lantern search engine for all of our users! We have millions of scanned pages, so user reports are incredibly helpful for us to identify places where we can improve and update the metadata.

Please describe the issue below, and click "Submit" to send your comments to our team! If you'd prefer, you can also send us an email to mhdl@commarts.wisc.edu with your comments.




We use Optical Character Recognition (OCR) during our scanning and processing workflow to make the content of each page searchable. You can view the automatically generated text below as well as copy and paste individual pieces of text to quote in your own work.

Text recognition is never 100% accurate. Many parts of the scanned page may not be reflected in the OCR text output, including: images, page layout, certain fonts or handwriting.

Wie mil Zenlnerschwere fiel es ihm auf einmal aufs Herz, daß ihm die Erinnerung an ein {ganzes Stück seines Lebens ja noch immer nicht wiedcrjjekchrt war. Ein taUtniäßic; schlurfender Schritt schreckte ilm endlich aus seiner Versunkcnheit auf. Der Nachtwächter kam mit blinkender Laterne vorbei. Hinler ihm im Hause schlug eine Uhr mit lang aushallenden Schlägen. Dann wieder nur das stumme Wachsen und Sprossen, das Geheimnis des Werdens, das die blühende Nacht wie ein Zauber umspann. Da löste er sich ganz leise und vorsichtig aus der Gebüschdeckung der Villa und stahl sich über die weichen Rasenböschungen des Gartens unhörbar bis zu einer Liguslcrhecke, über der der Gipfelsaum eines Waldes wie eine hohe Mauer in den dunklen Himmel hineinzackte. Ein schmales Pförtchen v\ar mit sträflicher Sorglosigkeit nur angelehnt. Im nächsten Augenblick stand er auf einem kleinen Feldrain und reckte mit einem unterdrückten Jubelruf die Arme. Gott sei Dank, er war frei! Dann saß er lange auf einem bemoosten Findlingsblock am Waldesrand und lauschte in die große sommerliche Stille hinaus. Zur Rechten wuchs der Wald eine Bergwand entlang, tiefschwarz und steil. Eine grasüberwachsene Fahrstraße führte bis zur halben Höhe hinauf und verlor sich dann weiter in unbekannte, drohende Dunkelheiten. Die wählte er endlich zu seinem Wanderweg, ganz gleich, wohin sie ihn führen würde. Nur fort, weit fort von den Fangarmen dieser Menschenfalle, wenn am anderen Morgen seine Flucht entdeckt ward. Zuweilen rauschte und raschelte es über ihm wie von unsichtbaren großen Vögeln; es duftete nach Blumen, die das Auge nicht sah. Und überall schwirrten in Gebüsch und Gesträuch unzählige Glühwürmchen, ihre kurze Eintagstrunkenheit verfunkelnd und versprühend. Jetzt säumte ein erster rosiger Schimmer die ragenden Buchenwipfel. Ein frischer Wind kam durch das Unterholz. Die Sonne erstand aus nächtlichem Schlaf. Unwillkürlich hemmte Kurt seinen Schritt und schaute in stiller Andacht in das ewig neue Wunder des erwachenden Tages. In langen Goldstreifen flirrte das Licht zwischen den graugrünen Stämmen hindurch und goß einen lohenden Purpurstrom über die betauten Wiesen und Moorgründe. Hier und da regten sich bereits die ersten Vogelstimmen, und ein kleiner Kuckuck wurde nicht müde, seinen Namen immer wieder durch den stillen Wald zu rufen. Eine Stunde später traf Kurt an einer Schonung auf ein altes Hutzelweibchcn, das Bruchholz auf einen kleinen Wagen sammelte. Er rief sie an und fragte nach dem nächsten Dorfe. Sie wies ihm einen Weg, der in steilem Abstieg über eine weite Rodung führte. In großen Klaftern lag das frisch geschlagene Holz reihenweise aufgeschichtet; eilfertige Ameisen irrten über die graugelben Stämme und Stubben, und tiefeingeschnittene Räderspuren kündeten von der Mühsal der Gäule, die die schwerbeladenen Wagen durch den lockeren Sand gezogen hatten. Dann öffnete sich der Wald auf ein freundliches Tal, Eine baumbestandene Landstraße lief durch Wiesen und Felder. Das junge Korn wiegte sich im Morgenwind, der Roggen schon schwer in Ähren, der Hafer noch grün. Dahinter die weiße Kirche eines stattlichen Dörfchens. ,,Heinhardtshagen — Kreis Sondershausen — Amtsgerichtsbezirk Allstedt" las er an einer verwitterten Grenztafel. Dann saß er im Garten eines kleinen Wirtshauses; er hatte in seiner Westentasche noch einen ganz zusammengeknüllten Fünfmarksciicin gefunden und sich ein einfaches Frühstück bestellt. Pfingstrosen wuclicrtcn über verwilderten Beeten, Schwertlilien und Goldlack und Fleißiges Lieschen. Bunlgewürfeltc Betten hingen über einem Staketenzaun, und hinter den nie gelüfteten Fenslern der Gaststube stand ein Myrlenbäumchen und in einem Bierglas ein halbvcrwelkter Vcrgißmeinnichtstrauß. Er trank Kaffee und aß heißhungrig ein paar fingerdicke Butterstullen mit frischem Landschinken. Dann nahm er ein Zeitungsblatt auf, das die Wirtin für den seltenen Stadtgast vorsorglich mit herausgebracht hatte. Es war eine Nummer einer großen mitteldeutschen Provinzzeitung, zerlesen und wochenalt, und doch für ihn die erste Verbindung zu einer verlorenen Welt. Mit einem flüchtigen Blick überflog er den politischen Teil. Und dann fuhr es auf einmal wie ein Axthieb gegen seine Stirn. In Fettdruck schrien ihm aus dem ersten Beiblatt zwei furchtbare Zeilen entgegen: ,,Der Mord in Wannsee; der mutmaßliche Täter Dr. Steinhoff flüchtig, Evelyn Karr unter dem Verdacht der Anstiftung in Untersuchungshaft." Nach langen Minuten erhob er endlich wieder den Kopf und blickte verstört vor sich hin. ,,Der Mord in Wannsee." Auf einmal war die Umschleierung seines Denkens wie ein Spinngewebe zerrissen, und in ihrer ganzen erbarmungslosen Nacktheit standen die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit wieder drohend vor seiner Seele, Der Pakt mit Karr, der Abend im Westendtheater, die furchtbaren Stunden im Ncubabelsberger Forst. Bis auf einmal der Einhieb kam, der sein Bewußtsein spaltete, daß seitdem nichts mehr in seiner Erinnerung war als eine endlose, schemenhafte Weite, ohne ein Merk für Zeit und Geschehen, Mit zitternder Hand griff er wieder zu dem verhängnisvollen Blatt, ob das gedruckte Wort ihm vielleicht sein verlorenes Gedächtnis wiedergeben könnte. Doch die Buchstaben tanzten vor seinen Augen, so daß er die Zeilen immer wieder von vorn beginnen mußte und nur ganz langsam die Einzelheiten des mit kinohaften Zwischentiteln sensationell zurechtgeputzten Berichts in sich aufnahm, ,,Der Tote im Schlafzimmer — die Frau im Einverständnis," Und dann das letzte: Evelyns Verhaftung. Evelyn im Gefängnis! Die zarte Frau hinter Kerkermauern, in einer öden, kahlen Zelle, zwischen dem Auswurf der Menschheit. Von neuem überfiel ihn eine wahnsinnige Angst, ob er nicht doch vielleicht seinen Verstand verloren hätte. , Karr tot, ermordet — indes er selbst noch lebte! ' Ein sinnloses, nutzloses Geschenk des Schicksals an einen Todgeweihten, der mit jenem Handel ja doch sein Leben verwirkt hatte, gleichgültig, was inzwischen mit seinem Gegner ge■ schehen war. Und nur der eine Gedanke behauptete sich in dem stürmischen Aufruhr seines Herzens: Er mußte zu Evelyn. Er mußte ihr helfen, weil er der einzige Mensch auf Erden war, der ihr helfen konnte. Wenn sein verlorenes Leben noch zu etwas nütze war, so war CS das eine, daß er es ihr zum Opfer brachte. Ganz klar und deutlich lag dieser letzte Bußgang, dieser Weg zur Schädelstätte auf einmal bis zum Ende vor ihm, daß er allmählich wieder gefaßter, gesammelter wurde und beim Abschied mit der Wirtin ganz ruhig und sachlich über den Weg zur nächsten Bahnstation sprechen konnte. Noch einmal sah er zu den ragenden Waldbergen zurück, durch die er in der letzten Nacht wie im Traume gewandelt war. Dann trat er auf die Landstraße hinaus und ging festen Schrittes durch den lachenden Morgen — seinem Schicksal entgegen. 14, Die Voruntersuchung war von Landgerichtsrat Dr. Rottmann mit bemerkenswerter Schnelligkeit so w-eit gefördert worden, daß die Anklage gegen Kurt und Evelyn schon gegen Ende des Monats Juni erhoben und der Hauptverhandlungstermin noch vor den Gerichtsferien anberaumt werden konnte. Die SelbstgestcUung Kurts hatte den Karr-Prozeß auf einmal wieder in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses gerückt, nachdem sein nächtlicher Ausbrucii aus dem Sanatorium Waldfrieden die gesamte Polizei Mitteldeutschlands in Alarmzusland versetzt hatte. Drei Tage nach seiner Flucht aus der Anstalt war Kurt in völlig erschöpftem Zustande noch am späten Abend auf dem Polizeipräsidium am Alcxanderplatz erschienen und hatte sich selbst der Täterschaft an der Ermordung Karrs bezichtigt; er hatte, soweit seine geringen Barmittel ausgereicht hatten, die Eisenbahn benutzt. und dann die letzte Wegstrecke von Wittenberg bis Berlin zu Fuß zurückgelegt. Fortsetzung folgt mk MMÜMMIHi