Der Kinematograph (May 1909)

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No. 124 Der Kinematograph — Düsseldorf. müssen wir uns dagegen wehren, wenn Y'eranstaltungen wie die Kinematographen diese Schattenseite des Gross- stadtlebens besonders kultivieren noch dazu auf dem empfindlichen Gebiet der Gemütsbewegungen. Zur sitt¬ lichen Bildung eines Kindes gehört, dass ihm durc h einige Ereignisse gewisse Gefühlswerte nahegebracht und dass dies«* in der Kindesseele fest verankert werden. Solche Ge¬ fühle dürfen nur einen gewissen, der zarten Kindesseele entsprechenden Grad von Bewegung hervorrufen und dürfen vor allem nicht mit entgegengesetzten Gemüts¬ bewegungen zeitlich nahe Zusammentreffen. Was bietet al»er der Kinematograph ? . n rascher Folge w«»chseln auf der Leinwand weit Scherz und Emst, denn Abwechslung muss sein Wer sich das Programm einer Vorstellung hat Vorspielen lassen, der weias. dass im Laufe von kaum einer hallten Stunde ziemlich sämt¬ liche Empfindungen unserer Seele angeregt, ja aufgeregt wurden, und dieses in einem heillosen Durcheinander und mit einer raffinierten Kindrücklichkeit, die jedem Erzieher ein Grauen erregen muss. Da zeigt z. B. ein Bild (ich habe, was ich erzähle, in dieser Reihenfolge gesehen) ein sogenanntes Druma von einem Mann. der. um sein Kind vor Hunger zu bewahren, gestohlen hat. dann aber als Maurer Arbeit bekommt und nun auf dem Neubau steht, um als redlicher Mensch weiter zu leben. Ein Schutzmann kommt hier herauf gestiegen, um den Dieb zu verhaften, und dieser stürzt vor Schreck vom Bau herunter. Man sieht den Mann zerschlagen aufs Pflaster fallen: gerade in dem Augenblick, als sein Kind vorbeigeht, das wohl zu ihm wollte. Also ein Schreck, ein Entsetzen, das, wenn es sich im Lehen einem Menschen so darbietet, dessen Seele so erregen muss, dass sie wochen¬ lang übervoll davon ist. Diese höchste Seelenerregung machen die Kinder, denen die Darstellungen durch ihre Phantasie doch sicher zum wahren Leben werden, mit durch! Das Drama geht weiter. Der mitleidige Schutzmann nimmt das verwaiste Kind mit in sein Haus, wo es in seinen Kindern freundliche Geschwister findet. Dann sieht man das Kind im Winter bei fallendem Schnee am Grabe des Vaters niederknien und beten. Ein heisses Gefühl überläuft dabei auch den Erwachsenen. Ich sah manches Taschentuch und gestehe ehrlich: Das Bild war so raffiniert gemacht, dass auch mir etwas im Halse hochstieg. Um nun diese Gefühlserregung auch recht bis zum Aeusser- sten zu steigern, wurde an dieser Stelle auf einem Harmonium ein getragenes Gebet gespielt. Also ?rst das Entsetzen, den Schreck in höchstem Grade, nun das Mitge¬ fühl zum äussersten gesteigert; beides seelische Erregun¬ gen, die man dem Kinde in diesem Grade ersparen soll, wenn nicht ein unbarmherziges Schicksal sie früh in eines Kindes Leben wirft. Und nun das nächste Bild: Kindermedizin! Zwei Minuten, nachdem die tiefsten und heiligsten Empfindungen aufgerührt waren, kam eine Geschichte von einem Kinde, das dem Vater das Abführmittel in den Kaffee schüttet, welches es selbst einnehmen soll. Das Bild zeigt immer neue Situationen, wie dieses Mittel schon auf dem Wege ins Geschäft beim Vater wirkt. Es lässt sich darüber streiten, ob solche Szenen noch in das Gebiet des Humors gehören Aber darauf kommt es mir nicht an. sondern auf den Erfolg: dass die Kinder plötzlich in die ausgelassenste Heiterkeit vernetzt werden und jetzt Tränen lachen. Man übertrage diesen schnellen Stimmungs¬ wandel einmal aufs Leben Ein Kind erlebt ein ergreifendes Schicksal und ist im nächsten Augenblick imstande, aus vollem Herzen zu jubeln. Wir würden die sittliche Ver¬ wahrlosung dieses Kindes sehr bedauern. Was also dem Kinematographentheater vorzuwerfen ist, das ist die Gefahr, welche das schnelle Durchlaufen der ganzen Gefühlskala für die Wahrheit und Tiefe der Empfindungen der Kinder mit sich bringt. L T nd diese Gefahr ist so gross, dass wirklich die Allgemeinheit sich ihrer bewusst werden und nicht nur danach ausschauen sollte, ob wohl ein nacktes Frauenbein oder ein unver¬ hüllter Busen vor den Kinderaugen erscheint. Ich habe zu Anfang meiner Ausführung gesagt, dass ich zu denen gehöre, die nicht ein Verbot solcher Veranstal¬ tungen für die Lösung halten, sondern die Nutzbarmachung für Unterricht und Erziehung. l>iese Reform des Kinemato- graphentheaters sehe ich in der Art der Vorführungen, wie sie z. B. das ,.Kosmostheater für Belehrung und Unter¬ haltung 4 ' in Leipzig bietet. Schon der Name sagt, dass dieses Iastitut volksbildende Zwecke verfolgt. Ilieses Theater unterscheidet sich in allem sehr wesent¬ lich von den anderen Theatern lebender Photographien. Die Hauswand und die Fenster weisen nicht die entsetz¬ lichen (entsetzlich in den dargestellten Szenen wie in der Ausführung) grossen buntfarbigen Bilder auf. die allen Bestrebungen nach künstlerischer Bildung der Jugend hohnlachend ins Gesicht schlagen. Statt dessen sind in Schaukästen im Eingang gute farbige Bilder aus fremden Ländern, auch belehrende Photographien aus interessanten technischen Betrieben u. a. ausgestellt. Beim Eintritt in das Theater fällt vor allem angenehm auf. dass man sich nicht in einem nüchternen Raum mit getünchten Wänden sondern wirklich in einem geschmack¬ voll ausgestatteten, anheimelnden Lokal befindet. Was jeden Freund der Moral unserer Jugend mit Freude erfüllen muss: Hier gibt es nicht dutzendweise Automaten, die durch ihre aufdringliche Zahl den Kindern den Nickel in der Tasche brennend heiss werden lassen. Und was jeden Freund der Gesundheit unserer Jugend angenehm berühren muss: Hier werden nicht mit ununter¬ brochener Skandalmusik die Nerven der Besucher syste¬ matisch zerrüttet. Es ist nur ein Klavier vorhanden, das durch eine Metrostileinrichtung ähnlich angenehm wirkt wie eine Phonola. Ist so schon das ganze Drum und Dran der Vorstellung lobenswert, so ganz besonders die Darbietung selbst. Ausser den ,.lebenden" Bildern wird nämlich ein Licht bildervortrag gehalten, der jede Woche wechselt. Ich sah z. B. in sehr guten, kolorierten Aufnahmen charak¬ teristische Bilder aus der nordwestdeutschen Tiefebene. Da wurde Bremerhaven, auch ein Schnelldampfer besucht; die Lüneburger Heide kam mit ihren Naturreizen und malerischen Ortschaften zur vollen Geltung usw. Ein gemeinverständlicher Vortrag gab die nötigen Erklärungen dazu. Die übrigen der „belehrenden“ Bilder waren kinema- tographische Aufnahmen, zum grossen Teil geographische. Auch hier zeigte sich feines Verständnis. Wir-de z. B. eine Landschaft aus den Y 7 ogesen gezeigt, so hatte der Photo¬ graph auch dafür gesorgt, dass just ein charakteristisches Ochsengespann und Volkstvpen vorüberzogen. Stimmungsvolle Naturbilder voll Poesie waren in einer Vollendung geboten, dass sie den Eindruck von Kunst¬ werken machten. Und was nur dem Kinematographen nicht dem Künstler möglich ist, das hatte man durch passende Belebung erreicht. YY r ie poesievoll ist ein Bild, das eine von. YY'ald umrahmte Seelandschaft darstellt. Und wie reizend wirkt es, wenn zwischen den Bäumen hin ein Zug vorüber¬ huscht . von dem man nur wenig sieht, der aber eine blendend weisse Dampfwolke zwischen den Bäumen stehen lässt. die dann durch das YViderspiel im YY T asser das Bild noch malerischer gestalten kann. Solche Bilder kann kein Künstler geben, sondern nur die Wirklichkeit und — der Kinematograph. Hier ist meines Erachtens das Gebiet, auf dem das lebende Bild sein Bestreben, der Kunst nahe zu kommen, erfüllen kann: „Die „belebte“ schöne Natur!“ Ausser diesen geographischen und naturpoetischen Bildern wurden sehr interessante Aufnahmen aus dem Sportleben, dem Volksleben, dem modernen Verkehr ge-