Hellmut Diwald: Sein Vermächtnis für Deutschland (1994)

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Freund Hellmut Diwald Anders als in vergangenen Epochen, als sich verantwortungsvolle Historiker naivem patriotischen Überschwang warnend entgegenstellen mußten, hat in unseren Tagen die Geschichtswissenschaft die Pflicht, pauschale Verunglimp- fungen, mit denen man ein Volk zu neurotisieren trachtet, ebenso sachlich wie mutig abzuwehren. »Die Kategorie Tradition ist wesentlich feudal.« Wie immer Adorno das gemeint haben mag, ob als Lob, oder - wahrscheinli¬ cher - als Vorwurf, es ist richtig. Es wird eine reizvolle Aufgabe für künftige Doktoranden sein festzustellen, wie viele Menschen Hellmut Diwald aus der Geschichtsvergessenheit der Nachkriegsjahrzehnte aufgeweckt hat. Wenn wir bei Botho Strauß lesen: »Was ist vergänglich, wenn das Gewesene lebt?«, dann berechtigt das für künftige junge Dramatiker, Poeten und Erzähler zu schönen Hoffnungen. Von der Erwartung, ausreichend viele politisch Han¬ delnde könnten aus der Kenntnis der Geschichte Lehren ziehen, um alte Fehler nicht wiederholen zu müssen, wage ich nicht zu sprechen; schon Jacob Burckhardt wußte, daß weder Seele noch Gehirn des Menschen in historischen Zeiten zugenommen haben. Auch hieße es die Historie entwerten, wenn wir sie lediglich als Kladde mit Ratschlägen für das Bewältigen von örtlichen oder gar der täglichen Mißhelligkeiten ansehen würden. Die Zahl der beeinflussen¬ den Faktoren ist so groß, daß auch ein Großrechner keinen verläßlichen Rat geben könnte. Historisches Wissen und Bewußtsein ist in anderer, größerer Weise von Nutzen. Bismarck, der »eisern« genannte Kanzler, hat es besessen und nicht zuletzt auch aus solchem Verstehen und Empfinden als ein genialer Schach¬ spieler (manche sprachen auch vom Jongleur mit fünf Bällen - den schwieri¬ gen fünf Mächten in Europa) dem Kontinent einen langen Frieden erhalten; Präsident Wilson, zuvor Professor für Geschichte und durchaus idealistisch gestimmt, stiftete mit E influßnahmen in Europa Unheil, weil ihm der tiefere Sinn für weiterwirkende historische Bedingungen und Kräfte fehlte. Das zweite moderne Imperium, die großrussische Sowjetunion, zerbrach nicht nur am wirtschaftlichen Desaster, sondern insbesondere an der Künst¬ lichkeit seiner Ideologie, die sich nur in Notzeiten (»Großer Vaterländischer Krieg«) der geschichtlich gewachsenen Kräfte entsann. Diwald hat solche Faktoren in allen seinen Büchern gewürdigt, und weil das in unserer materiell und universalistisch programmierten Gesellschaft nicht gern gesehen wurde, hatte er deren Mitschwimmer gegen sich. 86