Filmland : deutsche Monatschrift (1924 - 1925)

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genommen, Daniel zu belauern, und da mag es mitten im Sommer schneien: sie läßt ihren Posten nicht im Stich. London hat so viele Glocken, daß man, wo man auch stehen mag, immer einige zu gleicher Zeit läuten hört. Jetzt schlagen vier Turmuhren die neunte Abendstunde. Ach, und wenn sie zwölf schlagen! Um halbzehn scheint sich etwas zu ereignen: in Farnums Fiat werden zwei, dann fünf, endlich sechs Fenster dunkel. Und dann faucht von der Albert Road ein Kraftwagen heran, läuft mit abgestopptem Motor etliche zwanzig Meter und singt leise in den angezogenen Bremsen. Helen springt von einem Scharten in den anderen: sie muß doch den Herrn erkennen können, der da aussteigt. Leider gelingt es ihr nicht; der Herr verschwindet in der Haustür, ohne ihr das Gesicht zugewendet zu haben. Und schon wieder surrt der Anlasser am Kraftwagen ... O, die Nummer ist 37 645! Surre nur! Hui — springt der Motor an . . . und im gleichen Moment verläßt der Wagen seinen Platz vor dem Hause, um dem belebteren London wieder zuzustreben. 37 645! Diese Nummer kreist in Helens Kopf, während die Uhr um Stunden weiterläuft. Es wird zwölf, es wird eins . . . 37 645, wiederholt Helen mit unermüdlicher Besessenheit. Die Fenster drüben sind dunkel geblieben bis auf eins: — hin und wieder schleicht ein Schattenriß an ihm vorbei. Dieser Schattenriß kann nur einer korpulenten Frau gehören. Und dann graut der Tag über London. Ehe aber der erste gelbe Schein der Sonne am Himmel sichtbar wird, knirscht es leise im Türschloß dort drüben. Eng preßt sich Helen in die Nische ihres schmalen Versteckes: es ist doch gut, schlank zu sein! Ein Herr kommt heraus, groß gewachsen. Die Zipfel seines Raglans werden vom Winde erfaßt und klatschend hin und her geworfen . . . Die Tür drüben fällt wieder zu, der Fremde steht auf dem Bürgersteig und sieht vorsichtig nach allen Seiten . . . Helen entdeckt er nicht. Dann setzt er sich in Bewegung . . . nach der Albert Road zu . . . Helen überlegt schnell: diesen Mann darf sie nicht aus dem Auge lassen! Nachgehen darf sie aber auch nicht, das würde Verdacht erwecken. Sie muß ihm entgegenkommen! Sie muß es, weil sie sein Gesicht sehen will . . . Und vielleicht . . . Vielleicht . . . Ein wahnwitziger Plan quirlt in ihrem blonden Köpfchen auf. Eine Idee, so phantastisch und gewagt, daß sie sie fast verwerfen möchte. Aber — es gilt das Haus Farnum Getreide en gros . . . Kaum ist der Mann um die nächste Straßenecke gebogen, da läuft sie, was ihre von der 56 Nachtkälte erstarrten Füße zu laufen vermögen, hinter ihm drein; sie benutzt nur die Fußspitzen, um kein Geräusch zu verursachen. Und während sie läuft, wirbeln noch immer die Ziffern in ihrem Gehirn durcheinander, die Ziffern, die sich zu einer Zahl formen: zu 37 645 . . . Nun ist sie an der Ecke angelangt; der Mann, den sie verfolgt, hat ein höheres Tempo gewählt und den Mantelkragen hochgeschlagen. Er geht schräg über die Straße und will drüben . . . Aha! Schnell überblickt Helen die Situation. Sie wendet sich zur linken Seite, kommt an eine schmale Durchfahrt, in die hinein kein noch so leiser Schimmer des neuen Tages fällt, hastet durch die hofförmige Passage und erreicht die Parallelstraße, der auch der Mann zustreben muß, bevor dieser ankommt. Und da steht . . . einsam, mitten auf der leeren Albert Road, ein Pferdetaxi . . . Dieser Umstand muß ihr helfen . . . „Kutscher!" „Hm . . .?" „Fahren Sie langsam dort hinab . . . und wundern Sie sich über nichts!'' Der Kutscher brummt etwas Unverständliches und fährt davon, der Gaul hat auch steife Beine ... Er auch — , denkt sich Helen. Jetzt taucht der Fremde aus der Seitenstraße auf, er will den Fahrweg queren, sieht die Droschke . . . „Halt!" ruft er. Und der Kutscher, der nicht weiß, ob seine Gefaßtheit bereits hier einsetzen soll, hält wirklich an. Da wird der Fremde der Insassin gewahr, er stutzt und lüftet den Hut: „Verzeihen Sie . . .!" Helens Augen bohren sich im Gesicht des Mannes fest: zwei stahlharte Augen tasten nach ihr, hart und unbeweglich trotz der Verbindlichkeit der Worte. Diese Augen scheinen zu fragen: „Woher kommen Sie um diese Stunde?" Helen fühlt diese Frage wie ein Mißtrauen, und sie ist froh darüber, daß sie sich bereits ihre Rolle zurechtgelegt hat. Sie lächelt und deutet auf den Platz an ihrer Seite. „Kommen Sie herein," sagt sie mit süßlicher Stimme, „ich finde es reichlich kalt, um diese Zeit allein nach Hause zu fahren . . ." Der Fremde sieht sie noch immer schweigend an. Und da Helen auf eine Entscheidung hindrängen möchte, sagt sie zum Kutscher: „Fahren Sie weiter, Mann, — dieser Herr braucht mir zu viel Bedenkzeit!" Das Pferd legt sich in die Zügel, und in diesem Augenblick setzt der Fremde den Fuß auf das Trittbrett der Droschke. „Gestarten Sie — ?" fragt er Helen. Sie lacht, während die Morgenkühle ihre Glieder beben macht: „Ich habe Sie ja aufgefordert . . . Sie haben sich aber gar nicht gut