Filmland : deutsche Monatschrift (1924 - 1925)

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das geringste zu tun. Wir kommen diesem Begriff ganz unmittelbar nahe, wenn wir, um den strebsamen Dramaturgen und der breiten Publikumsautorität die Gefolgschaft zu erleichtern, an denjenigen Schriftsteller denken, der so recht eigentlich die üesellschaftspoesie in ein festgefügtes System gebracht hat: an Honore de Balzac. Jahrzehntelang hat man Balzac bei uns nur als einen fast peinlichen Dichter betrachtet, bis es in unseren Tagen ein rühriger Verlag* unternahm, die gesamten Werke dieses prachtvollen und begnadeten Romanciers in deutscher Sprache erscheinen zu lassen. Daß bis zur Stunde schon etwa 25 Bände vorliegen, sei nur nebenher erwähnt, dürfte aber von den aufmerksamen Lesern als Ereignis erster Ordnung gewertet werden. Und das aus folgenden Gesichtspunkten heraus: Unsere Filmdramaturgie krankt heute, ohne daß wir die Ursachen mit bestimmten Personen in Verbindung bringen wolkn, hauptsächlich daran, daß sie aus den ausgetretensten Gleisen der Banalität nicht herausfindet. Das ist nicht nur eine deutsche Erscheinung: — in allen produzierenden Ländern finden wir das gleiche Symptom. Wir kleistern gewissermaßen unsere neuen Filme an Hand der alten zusammen, wir beschäftigen häufig Filmstars, deren Maskenschatz wir bereits ausprobten, in immer den gleichen Masken, — und wir bringen kleine Ueberraschungen, die gar keine Ueberraschungen mehr sind, weil wir sie alle kennen. Dramaturgische Einfälle gibt es fast gar nicht, wie es auch — Seite an Seite damit — kaum neue physiognomische Einfälle der Darsteller gibt. Wir sind infolge einer Ueberspannung der geschäftlichen Orientierung zu fast völliger künstlerischer Sterilität gelangt. Das ist unsere Krankheit. Und im Augenblick dieser Erkenntnis gibt man uns einen deutschen Balzac in die Hand, macht man uns vertraut mit den Persönlichkeiten, die Honore de Balzac in den Mittelpunkt seiner Gesellschaftsromane stellte. Was ist denn, was verstehen wir denn unter einem Gesellschafts roman, einem Gesellschafts draraa, einem Gesellschafts f i 1 m? Was ist die Gesellschaft, die sich in all diesen Produkten der geistigen Reproduktion abkonterfeit? Sie ist unsere Umgebung, sie ist unser Beruf, sie ist unsere Art, zu denken. Wir alle haben dies oder jenes Geschäft. Wie benehmen wir uns bei unseren Geschäften? W7ie lachen, wie feilschen und wie fälschen wir? Wie wickeln wir unsere Mitmenschen ein? Wie heucheln wir, wie fingieren wir Moral — und wie sieht's in Wirklichkeit in unserem Herzen aus? Sind wir wirklich so erotisch, wie irgendein Dichterling mit geringer Begabung uns weismachen will? Sind Wir wirklich so edel, wie der rosigbebrillte Romantiker uns erzählt? Wie ist die Mischung * Ernst Rowohlt, Vorlag. Berlin. Taschenausgabe, in Pappband, Ganzleinen, Halbleder oder Ganzleder. aus Geldgier, Erotik und Edelmut, die unsere Gesellschaft im Kampf um die Existenz offenkundig werden läßt? Honore de Balzac hat sich aus dem damaligen nachrevolutionären Paris eine neue Welt geschaffen; er hat eine lange Reihe von Personen, die sämtlich irgendwie miteinander verwandt sind, erfunden, und er spielt sie nun in jedem seiner Gesellschaftsromane gegeneinander aus. Er bringt Einleitungen von dreißig oder auch von nur zwanzig Seiten, und in jedem dieser kurzen, beinahe trockenen Vorworte sind für den phantasievollen Dramaturgen nicht selten bereits zehn Filme enthalten. Balzac kennt die unbedeutenden Einzelheiten im Leben seiner Helden, er kennt ihr Gewicht, ihre Schulbildung, ihre Einnahmen, — er befaßt sich mit ihren fehlgeschlagenen Hoffnungen, mit ihren Wünschen, bis zum Anfange des Romans . . . und er ist in diesen Präludien bereits so mit Phantasie geladen, wie kaum ein moderner Romanschriftsteller in einem ganzen Buchwerk. Unzweifelhaft begeht derjenige, der Balzac lediglich vom Standpunkte des ungeheuren Fabelreichtums durchsieht, ein Unrecht an dem Wissenschaftler, Volkswirtschaftler und Philosophen Balzac, doch muß des guten Zieles halber dieses Unrecht mitgenommen werden. Unsere modernen Gesellschaftsfilme, die — wie ein Berliner Kritiker zum Erbrechen oft sagt — aus der Zeit heraus geboren werden müßten, werden sich aber auch schwerlich an Balzac festklammern können, sie sollen ihn nur darin zum Ausgangspunkt nehmen, wie man eine Epoche und ihre Menschen dichterisch betrachtet. Wie man die Vorgänge sieht, wie man die Menschen in Typen malt und schildert. Denn die Gesellschaft ist nicht nur eine Anhäufung von Gegenwärtigem, sie ist auch ein Verdauungsprozeß des Vergangenen. In „E u g e n i e Grandet" haben wir, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, in den einleitenden Worten eine so minutiöse Darstellung des Ortes der Handlung, daß kein Filmarchitekt sich einen besseren Entwurf wünschen könnte. Der Architekt, der einen „Eugenie-Grandet"-Film zu bauen hätte — beiseite gesagt: die Franzosen haben, glaube ich, bereits einen solchen Film! — , dieser Architekt könnte getrost auf jede eigene Phantasie verzichten; er fände das Aeußere des Hauses, das Innere, das ganze Mobiliar mit so v ielen Details, daß er nur noch den Tischlern und Kunsthandwerkern die Aufträge zu erteilen brauchte. Die Darsteller aber Und da haben wir das ungeheure Lebergewicht der dichterischen Phantasie über das zusammengeleimte Manuskript, das wir heute besitzen, — über das Manuskript, auf das nicht selten Autor, Regisseur, Diva und Hilfsaufnahmeleiter so gleichermaßen stolz sind! Dieses Uebergewicht hat seine Ursache darin, daß Balzac, als hätte er Filmregie zu führen, jeden 62