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Menschen leibhaftig vor sich erstehen läßt. Der alte Grandet, ein Geizhalz schlimmster Sorte, wird auf vier oder fünf Seiten in allen Situationen geschildert; die Charakteristik ist von einer schneidenden Schärfe, und um sich beispielsweise jede Einzelheit seiner Gesten zu vergegenwärtigen, malt Balzac u. a. sogar aus, daß, wenn man mit Grandet sprach, er unbewegt zuhörte, das Kinn mit der rechten Hand hielt und den Ellenbogen der rechten Hand auf den Rücken der linken Hand stützte. Die Figur des lauschenden Grandet steht damit so unverrückbar fest, daß sie aus der Vorstellung nicht mehr entschwinden kann.
Im „Vater G o r i o t" ist eine alte Pension geschildert, die Pension Vauquer; jedes Zimmer, jede Mansarde hat Form und Farbe gewonnen; der Regisseur hat in diesem einen Buch gut und gerne vierzig Schicksale, die er, jedes gesondert, in unerhörten Komprimierungen verwerten könnte. Denn die Pension Vauquer ist zeitlos, sie existiert im Grunde noch heute, sie kann in Breslau so gut wie in Berlin oder Rom ihre Heimat haben. Und die Menschen, die im „Vater Goriot" vorkommen, sind gleichfalls Menschen unserer Tage — und unserer Gesellschaft. Allerdings — zur Beruhigung der Gemüter: auch dieses Buch wurde bereits verfilmt; aber welchen unerschöpflichen Reichtum gäbe allein die Episode der Werbung von Frau Vauquer um den noch begütert erscheinenden alten Goriot? Bei Balzac ist dieses Zwischenspiel in vier Seiten abgetan: — es gibt aber zehnaktige Filme, die nicht den zehnten Teil an Begebnissen dieser kleinen Balzacschen Episode aufweisen!
In der „J u n g g e s e 1 1 e n w i r t s c h a f t" begegnen wir dem eleganten, geschniegelten Maxence, der weder schlecht noch gut ist, sondern nur faul. Er ist eine der dankbarsten Rollen, die wir uns überhaupt für den Film denken können! Aber — die üppige Phantasie Balzacs würde Stoff zu zwanzig MaxenceFilmen geben; es bedarf eines geschickten Dramaturgen, der aus dieser Figur das in jeder Gesellschaft Bleibende, das Typische herausfindet. Was aber das Milieu der Kleinstadt Issoudun anbelangt, jener Stadt, die auch für Balzac nur Begriff für das Wort „Provinz" war, so dürfte kein Regisseur in Verlegenheit geraten, jene Atmosphäre ausfindig zu machen, in der Erbschleicher der Art von Maxence, Flora und Philipp Bridau gedeihen. Das Abenteuer der lotteriespielenden Frau Descoings mit eben diesem Philipp wäre eine erschütternde Wendung, deren Uebernahme Balzac keinem um Pointen verlegenen Dramaturgen verargen würde.
In den „Zwei Frauen" bietet sich das Schicksal des Fräuleins von Chaulieu; zart, hauchzart — und doch graziös in der spielerischen Manier, in der eine Frau ihr Leben verpfuscht — oder auskostet, je nach der Ein
stellung, die das moralische Gewissen diesem Sujet gibt. In „Cäsar B i r o 1 1 e a u" finden wir die kapitalste Katastrophe, die je für einen Roman ersonnen wurde: den Triumph des kleinen Parfümeriehändlers über seine geringe Herkunft — und den tragischen Abstieg ohne Verschulden; — das Verhältnis von Birotteau zu Frau und Tochter, seine Abhängigkeit von dem kleinen Popinot . . . ach, es hieße den Roman erzählen, wollte ich seinen Inhalt für d i e andeuten, die Balzac nicht kennen!
Wir reden uns heute ein, in einer Zeit zu leben, der starke Akzente eigen sind. Gut, bleiben wir dabei, es ist immer schön, auf seiner Epoche einen besonderen Stempel zu erkennen; — aber dieser gleiche Stempel war auch andern Zeiten eigen1, die vom Film, dem angeblich unbestrittensten Dokument einer hastenden Geschichtsperiode, noch nichts ahnten. Die starken Akzente, die wir kennen, sind demnach etwas gesucht: wir glauben sie im Mystischen, im Abenteuerlichen, im Sensationellen entdecken zu können. Weit gefehlt: Abenteuer und Sensation überschreiten ebenso wie Mystik sehr schnell die Grenzen des Glaubbaren, sie wachsen auch bei weitem nicht so aus unserer Zeit heraus wie das Gesellschaftsstück, in dem wir uns und unser Streben, unsere Gewissenlosigkeit und unsern Goldhunger wiedererkennen. Was wissen wir denn von den Sonderlingen, wie Balzacs „Vetter Pons" einer war? Vetter Pons wandelt noch heute unter uns, aber wenn ein Filmdramaturg einen Menschen mit doppelter Existenz „ersinnt", so macht er einen abenteuernden Scharlatan aus ihm, einen Verbrecher im Frack, einen Mann mit drei Luftsprüngen in jedem Akt.
Nein, auf diese Weise kommen wir nicht zum Gesellschaftsfilm; und da — offenbar! — die Scharfsichtigkeit und — pardon! — die Geistigkeit unserer meisten Filmdichter oder aber auch die bedingungslose schöpferische Freiheit nicht ausreicht, ihnen das Auge für die wirklichen Menschen unserer Tage zu schärfen, so kann, darf und muß Honore de Balzac zu diesem Zwecke herhalten. Es wird Literarkritiker unter meinen Lesern geben, die dies oder jenes an meinen Gedanken bemängeln, die Versündigungen gegen Balzac herauslesen werden und mich mit Taine strafen möchten . . . Gemach! Wir haben die Aufgabe, dem Film neue gedankliche Quellen zuzuführen. Und wenn schon heute kein Bibliotheksband mehr vor Dramaturgenblicken sicher ist: — warum sollte nicht auch Balzac hinzugezogen werden?
Möchte die Dramaturgie sich dieser Ideenschätze bedienen, und möchten Regie und Darsteller gleichermaßen von dem Reichtum befruchtet werden, den wir Honore de Balzac verdanken!
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