Film-Magazin Vereinigt Mit Filmwelt (1929)

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,,An die Arbeit!" sagte sie plötzlich hart. In dieser Minute begann der Teufel der Verführung sein Werk. Bill, gewohnt nachzugeben, warf einen letzten Blick auf den Kognak und ging dem energischen kleinen Fräulein nach, dessen veränderte Laune er nicht bemerkt hatte. Es war schon lange nach Mitternacht, als die Geschwister die letzte Seite mit einem erlösenden Seufzer „Quatsch!" fertig hatten. In dieser Nacht konnte Billie lange nicht einschlafen. Es war ihr, als ob sich in Kürze ihre Vermögenslage nicht unerheblich bessern müsse. Aber wie? Am anderen Morgen fand Billie unter dem Wachstuch ihrer Schreibmaschine eine Schachtel mit Katzenzungen und ein Briefchen, das die vereinbarten fünfzig Mark enthielt. Auch Bill war durch eine Schachtel mit Zehnpfennigzigaretten angenehm überrascht. „Mosch hat Lebensart; er ist kostbar", sagte Billie. In der Mittagspause studierten die Geschwister eifrig den Vergnügungsplan. Der heutige Abend sollte der Zerstreuung gewidmet sein. Sie entschieden sich für das Glaspalast-Variete, besorgten sich Karten und waren nachmittags recht zerstreut bei ihrer Arbeit. Mit dem Glockenschlag sechs brachen sie auf, Billie mit dem natürlichen Rouge der Erwartung, das ihr Gesicht jedesmal verschönte, wenn ein Theaterbesuch bevorstand, und Bill mit dem Stolz und der Behäbigkeit eines e.xotischen Regenten, nicht nur weil ihn der Schaffner der Stra(3enbahn um eines Trinkgeldes willen entsprechend behandelte. Als sie dann kurz nach Eröffnung der Kassen den hellblau gepolsterten Vorraum betraten, merkten sie nicht, dalj der Teufel, der kleine Teufel mit hineingeschlichen karii. In sehr malerischen Schaukästen gruppierten sich bunte Plakate und Photographien, durch welche die auftretenden Künstler ihr Publikum zum Zeugen sehr sehenswerter Details aus ihrem Privatleben machten. ,,Die Brüder Giacomi beim zweiten Frühstück" hieß es beispielsweise, und man sah, wie auf höchst komplizierte Weise drei Herren vorgerückten Alters Nudeln oder Makkaroni auf Wandschirmen, Stuhllehnen und Kleiderständern zu sich nahmen. Ein anderes Bild trug die Unterschrift „Castruccio Castracani, der Liebling der Frauen, die Zeitung lesend." Das war sehr schön; denn man sah nur das Journal, hinler dem möglicherweise jemand sitzen konnte. So jagte ein erstaunliches Bild das andere. Was Wunder, wenn die Zeit bis zum Beginn den Geschwistern wie eine Sekunde verging. Besonderen Eindruck hatte auf Billie ein Plakat gemacht, das eine wohlproportionierte Dame zeigte und als Aufschrift nichts anderes trug als „Rence?" ,,Wic können wir nur zu Geldc kommen?' unvermillclt und traumhaft. ..Na he, wir haben doch fünfzig Mark!" ,,Wir müssen mehr haben, wir müssen reich ,,Sci doch nicht so albern, Billie, ich kenne wieder!" „Wir müssen — Bill — und wir werden. Verlaß dich drauf!" ,,Soll ich's mal mit Novcllcnschrcibcn versuchen? Ich habe Phantasie, beherrsche die Sprache und kann vortrefflich intcr pungieren; das sind doch die Erfordernisse eines Schriftstellers. Was meinst du, Billie?" ,,Daß du heute sehr scherzhaft bist. Du — und Phantasie? Dussel! Mir ist alles bitter Ernst." „Na, komm nur rein, Billie, du wirst schon wieder vernünftig werden." Und dann saßen sie auf ihren Plätzen, starrten gebannt auf die Akrobaten, Spaßmacher und Tänzer. Das bunte Vielerlei brachte sie in jene Stimmung, die so wohltätig beruhigend auf abgespannte Wesen wirkt und ihren Höhepunkt im Genuß der vier Tage alten Schinkenbrötchen findet, die im Foyer während der Pause feilgeboten werden. Eme Nummer gab es, die besonders Billies Anteilnahme hatte; „Rence" mit dem Fragezeichen. Die hübsche Pe.scn trat als erste nach der Pause auf. Sang Chansons mit vollendeter Anmut, tanzte mit Grazie und beherrschte mit Kunst und Scharm ihre Zuschauerschaft, Unbeschreiblich aber war der Beifall, als sich „Renee" gemach zu entkleiden begann, sorgsam ihre Kleider auf einen Stuhl hängte, sich einmal heimlich mit dem Handrücken übers Gesicht fuhr, die Perücke entfernte und sich dem Theater als Mann präsentierte. Das alles mit solchem Geschmack und Takt, daß niemanden das häßliche Gefühl bcschlich, das nur zu leicht derartige „Darbietungen" hervorrufen. Billie war zur Salzsäule geworden. fragte Billie ganz sein! dich :ht Was ihr vor vierundzwanzig Stunden noch unklar vorschwebte, nahm nun Gestalt an. Das war kein Zufall, daß sie gestern Bill mit Hut und Cape geschmückt hatte, das war kein Zufall, daß sie heute im Glaspalast saßen. Das war Bestimmung, Notwendigkeit, Schicksal! Sie war auf dem Nachhauseweg recht einsilbig. ,,Bist du vielleicht krank, Billie?" fragte der Bruder besorgt. ,,Du bist ja krank! ' lachte Billie, Zu Hause angekommen, vergaß Billie zum ersten Male, Kater Mohammed einzulassen, sie setzte sich an den kleinen Kamin und stocherte gedankenvoll im Feuer herum, ,,Nun sag mal, was hast du nur, Billie?" ,, Nichts, nichts, lieber Junge — übrigens kennst du Mark Twain?" ,,Ncin, schuldet er den Terpins viel?" „Gar nichts. Na, das hilft dann nichts. Dann werde ich dir Unterricht geben." ,,Haha! Noch einmal; Haha! Englisch, Religion, Boxen kann ich besser als du, in den übrigen Fächern stehen wir gleich. Was willst du mich lehren — überhaupt, was soll diese ganze Geheimniskrämerei? Seit zehn Stunden rennst du umher wie ein Krokodil und machst ein Gesicht — " ,, Krokodile rennen nicht", betonte Billie ihr Wissen. ,,Was ist denn nur los?" ,,Du sollst es nie erfahren, paß auf: Mit uns geht eine große Veränderung vor — — " ,,Um Gottes willen, Billie, ist Tante Gertrud — — ?" ,,Pst, mein Sohn, nichts dergleichen. Hör zu und unterbrich mich nicht! Veränderung vor. Wir werden kündigen, weil du eine bessere Position gefunden hast!" ,, Erlaube mal, davon weiß ich ja gar richts!" ,,Ruhe! Ich habe dich gestern als Mädchen gesehen, Bill! Wir haben heute , Rence' gesehen. Weißt du, was der im Monal verdient? Fünf bis sechstausend! Ist das vielleicht 'ne Kleinigkeit? Und was der kann, wirst du auch können, verstanden? Dafür sorge ich!" ,,Was denn, was denn — das ist doch alles Unsinn — ich meine, so was muß einem doch gesagt werden — " Bill war hilflos. ,,Und dann, man kann doch nicht kündigen, und außerdem— ach. Bli'dsinn, dieser Wahnsinn ist ja Irrsinn — verrückte Weiberlaune! ' Bill zog das Grammophon auf, um auf heitere Gedanken zu kommen. „Hucki jucki eikin tuh!" machte der Apparat, und Bill sang und tanzte, vergaß die Schwester und ihre gewaltigen Ideen. Die musterte ihn zum ersten Male mit ungeteilter Aufmerksamkeit, entdeckte kuriose Nuancen und sagte dann; ,, Abgemacht, Bill, schlag ein! Denk an das Plakat mit dem Fragezeichen! Ausrufungszeichen! Was , Rence' kann, kann ,Bill' schon lange! Und stell dir mal das Leben vor: nicht jeden Morgen um halb sieben aus den Federn zu müssen." Billie halte, wenn sie sich etwas davon versprach, einen Ton der Beredsamkeit und Überzeugung, daß ihr so leicht kein Opfer aus dem Netz entwich. Und mit Bill hatte sie überhaupt keine Arbeit. „Wer ist denn eigentlich dieser Mark Twain?" fiel ihm plötzlich ein. ,,Ja, Bill, sieh mal, wenn du den kenntest, dann brauchte ich dir jetzt nicht beizubringen, v\ie man sich als Mädchen zu verhalten hat; der hat so ein Buch geschrieben, da steht drin, wie sich ein Junge als Mädel verkleidet hat und wie der Schwindel 'rausgekommen ist, weil er sich immer wieder wie ein Junge benahm: die Knie zusammenpreßte, als man ihm ein Wollknäuel zuschmiß, anstatt sie auseinanderzureißen — na, imd solche Sachen. Wirst du schon lernen, wirst du alles noch lernen!" Abend für Abend machte Billie die Lehrmeisterin und brachte Bill die Künste der weiblichen Koketterie, die Anmut der Bewegung und die Reaktion auf die verschiedenen äußeren Einflüsse bei. Zunächst mit Widerstreben, aber ohne Auflehnung, später mit Interesse und endlich mit lebhaftem Vergnügen versuchte sich Bill als gelehriger Schüler, und das Grammophon spielte bei all diesen Unterrichtsstunden eine nicht zu unterschätzende Rolle. Es wäre übertrieben, zu sagen, daß Bill im Verlauf der ersten acht Tage bereits ein bühnenfähiger Künstler geworden sei; aber er entpuppte sich als ein begabter Bursche mit ausgeprägtem Instinkt für Wirkungen; es gab für ihn eine Wichtigkeit: seine Schüchternheit abzulegen. Doch das würde schon kommen, dachte Billie hoffnungsfroh. Erst einmal ins Engagement, erst einmal Breltcrlufl schnuppern! Forlsetzung folgt ti i el