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reklor der weltbekannten Marionettenlruppe ,,Teatro dei Dodici", empfiehlt sich dem Publikum, den Agenturen und den Varietebühnen aller Länder.
„Ich hoffe, gnädige Frau, daß Sie mich im Variete Kawkasia aufsuchen werden", sagte Herr Söndarsson beim Abschied und fügte hinzu: „Dann will ich Ihnen mein Theater zeigen, wie es hinter und über den Kulissen aussieht."
Er winkte Abschied, und die Tante stand in der breiten Gesandschaftsstraße; die Sonne stach grausam, selbst hier, wo die Luft reiner war als in den Händlervierteln an der Stoa des Attalos.
Im Wartezimmer des Professors Hedone saßen Fremde aus allen Provinzen, die den Offenbarungen des Gelehrten ergeben waren und auf Befreiung von ihrer verwickelten Seelenbeschaffenheit, die sie Komplexverdrängung nannten, hofften.
Die aus der Art geschlagene Menschheit der ganzen Erde schien sich ein Stelldichein gegeben zu haben, das durch das korybantische Lobgelön der Patienten, wenn sie den Arzt verließen, immer größere Dimensionen annahm, Teufel, die Degeneration der Welt war ungeheuer! Tante Erskine sah mit gesunder Verachtung auf Püppchen und Schminkstifte, die sich im gepolsterten Warteraum lümmelten. Mit Pitt aber hatte sie Mitleid. Endlich, als Nummer neunundzwanzig, trat sie in das Sprechzimmer des Berühmten. Ein spitzbärtiger, pudelähnlicher alter Herr trat weltmännisch wippend auf sie zu und wollte sie nötigen, auf einem schwarzen Diwan Platz zu nehmen, Frau Philba dankte und bemerkte, daß sie nicht ihretwegen, sondern um ihres Neffen willen gekommen sei.
Der Arzt hörte ihrem Bericht aufmerksam zu, dann sagte er: ,.Die Merkwürdigkeit des Falles scheint mir darin zu liegen, daß die Neigung des jungen Mannes nur unter bestimmten Bedingungen bei einer einzigen Person erwacht. Das erleichtert meine Aufgabe, wenn ich überhaupt von einer Aufgabe sprechen darf. Ich erinnere mich aus meiner Praxis an eine Begebenheit — hier lächelte der alte Herr schalkhaft — , daß der Sohn eines meiner Bekannten eines Tages seinem Vater ein Geständnis ähnlich überraschender Art machte; der ängstliche Papa griff darauf zu einem Mittel, das ihm ein Freund des Jungen anriet: Er gab den beiden Geld und schickte unter der Leitung des Freundes seinen Sohn in Tanzlokale und andere Etablissements, wo leichte Mädchen den armen Kranken auf die normale Bahn zurückbringen sollten. Was war das Ganze? Nichts als ein Komplott, um dem Vater Geld zu entlocken, das die beiden mit ihren anspruchsvollen Freundinnen gut und sicher vertaten. — Nun, derlei ist wohl möglich, wird aber bei Ihrem Herrn Neffen nicht in Betracht kommen. Schicken Sie mir den jr.ngen Mann heute nachmittag einmal her, ich will mit ihm sprechen, wir werden's schon in Ordnung bringen, gnädige Frau; die Kasse ist unten rechts — pardon, die Gewohnheit! Gnädige Frau, die Gewohnheit! Sie brauchen natürlich erst heute nachmittag zu bezahlen. Habe die Ehre, Kompliment, auf Wiedersehen!"
Tante Philba war einigermaßen verwundert über den sonderbaren Doktor,
Nachmittags stellte sich der Neffe bei dem Seelenarzt ein und erwartete mit leichtem Magenschmerz die Diagnose,
,,Es ist nichts, mein lieber Herr", sagte Professor Hedone, ,,ich finde an Ihnen keinerlei Kennzeichen einer anormalen Natur, will ich davon absehen, daß Sie mit einer außergewöhnlich träumerischen Phantasie begabt sind. Würde man mich fragen, ich würde sagen, daß Sie verliebt sind, in eine hübsche junge Dame verliebt sind und daß Sie sich keineswegs anders benehmen als alle jungen Leute beiderlei Geschlechts in diesem Zustand Beruhigen Sie Ihre Frau Tante, und beruhigen Sie sich! Die Wissenschaft hat immer recht; und wenn Sie mir auch noch so überzeugende Tatsachen nennen, glauben Sie mir, Sie sind gesund, die Wissenschaft läßt sich nicht täuschen. Die Kasse ist unten r«chts. Auf Wiedersehen, grüß Gott, leben Sie wohl!"
Pitt Erskine wußte nicht, wie er am besten dem Arzt seine Verachtung bezeugen sollte; es schien ihm, daß er bei den Ochsen mehr Wissen vertreten gefunden hätte als bei diesem Scharlatan, wie er ihn nannte. Pitt hatte sich nach Art der Hypochonder in das Gefühl des ungesunden Krankseins so sehr hineingesteigert, daß er im besten Begriff stand, ein Menschenfeind zu werden. Die Feindschaft begann er bei sich und festigte sie durch die Absicht, so bald wie möglich die Gesellschaft der Wüstentiere aufzusuchen. Mit einem Wort: die Konsultation hatte den Erfolg, Pitt und sein Verhalten zur Tante unerträglich zu machen.
,, Schande!" dachte Frau Philba, ,,wir müssen abreisen; der verrückte Bengel brennt mir durch, fürchte ich!"
Da fiel ihr zur rechten Zeit Einar Söndersson ein, und sie begab sich zum Variete ,, Kawkasia", das sie bisher wie die Pest gemieden hatte. Als sie durch das nicht sehr vornehme Stadtviertel ging und mit jedem Schritt dem alten Gebäude näher kam, das sich durch grelle Plakate verriet, klopfte ihr Herz, Sie ahnte, daß sie nicht zurückkehren würde, ohne den entscheidenden Schlag im Interesse ihres Neffen gegen ihn geführt zu haben. Auf welche Weise das geschehen sollte, war ihr bis jetzt noch unklar. Es fehlte nicht viel, so wäre sie vor ihrem Unternehmen davongelaufen, aber ihre Tatkraft entschied: die eigene Bequemlichkeit verlangte zu handeln.
Um diese Stunde lag der Theatersaal des ,, Kawkasia" eisig schwül in einem Dunst kalten Bier und Zigarettenqualmes; kein Mensch war anwesend, die Proben waren vorbei, bald kam die Stunde, da die Scheuerfrauen ihr Werk begannen. Tante Philba suchte sich einen Weg zwischen tausend Stühlen und Tischen und stand endlich vor der Bühnenlür. Dahinter roch es nach Sauerbraten und Parfüm; es war dunkel auf dem gewundenen Gang, der zu den Künstlerzimmern, also direkt auf die Bühne führte. Etwas betreten stolperte die Tante über allerlei Dekorationswerk, bis sie mit der trüben Beleuchtung vertraut war. Dann hatte sie ihre alte Festigkeit wieder und trat zum Zimmer, das ihr am nächsten war. Sie hatte Glück. Hinter der Tür verbarg sich das ,,Teatro dei Dodici", und sein gefälliger Direktor, Herr Söndersson, saß in einem abenteuerlichen Gewand auf einem vergoldeten Rokoko-Stuhl und leimte einem Hampelmann zwei hellblaue Flügel an. Tante Erskine, die geräuschlos eingetreten war, spürte in dem kleinen Raum eine fremdvertraute Welt. David Corryna und die aus dem Zirkus geholte Großmama schwirrten für Sekunden durch ihr Hirn.
Sie räusperte sich und begrüßte den überraschten Puppenspieler,
,,Das ist aber eine Freude, gnädige Frau", sagte der, ,,wie sind Sie denn hineingekommen?"
Dann bat er sie, Platz zu nehmen, plauderte unbekümmert, ließ Kasperl und Colombine kalten Kaffee trinken, trunken tanzen, allerlei Unsinn reden, räumte alles fort, erklärte dabei viel, und die gute Tante vergaß bei so viel temperamentvoller Unterhaltung beinahe das Ziel ihres Besuches.
Als er ihr endlich etwas Zeit ließ, sich zu besinnen, empfand sie, daß ein zu schroffer Übergang zum Thema, das ihre Gedanken bedrückte, das Mißtrauen des regsamen Mannes herausfordern mußte.
,,Was wissen Sie von , Belle Bellie'?" fragte sie endlich. ,,Ein ruhiger junger Mann, der nach seinem Auftreten bald verschwindet. Er wohnt draußen, in der Nähe der alten Burg; recht still und verschlossen, wie mir scheint. Mit den Kollegen hat er, glaube ich, gar keinen Umgang."
,,Er ist also ein Musterknabe, solide und brav, wie?" Der Puppenspieler lachte: ,, Soweit ich das beurteilen kann, ist's wohl so. Übrigens hat er nicht nur unter den Frauen Verehrerinnen, es gibt da einen Studenten, oder so etwas, der sich täglich pünktlich einfindet. Ob die beiden befreundet sind, kann ich nicht sagen. Ich kümmere mich um das Privatleben meiner Kollegen nicht."
Nachdem sich Einar Söndersson drei Stunden in bester Gesellschaft bewegt hatte, wußte Tante Philba, was sie in Erfahrung bringen wollte, und verabschiedete sich herzlich von dem Puppenspieler, der zu seiner Überraschung nach ihrem Fortgang ein Kouvert mit einigen Drachmen fand,
Philba Erskine bereute die Intimität keineswegs; denn ihre Höflichkeit hatte' ihre Kenntnis des Artistenlebens bereichert. Sie war, da das Denken des Künstlers sich vornehmlich in dieser Richtung bewegte, über die Charakterlosigkeit einzelner VarieteAgenten durchaus im Bilde und wußte genau, daß das Büro des Aristide Gibier de Potence in Paris zu den bedeutendsten der bestechlichen Institute zählte.
So kam CS, daß Billie an einem schönen Vormittag aus Paris einen Brief empfing, der das Siegel der größten ArtistenAgentur trug.
Billies freie Zeit wurde seit Tagen mit der antwortlosen Frage ausgefüllt, ob es ratsam sei, das Empfinden ihres Herzens dem Logenschließer mitzuteilen, den sie im Laufe der Wochen nicht mehr als Fremden ansah; ganz ahnungslos wollte sie ihren Schwindel beichten; einmal, weil es Genugtuung bereitet, einen Mitwisser zu haben, dann aber, um zu erleichtern, was ihm ganz offensichtlich und auch ihr Schwierigkeiten bereitete: die gegenseitige Aufmerksamkeit und wachsende Zuneigung sich frei entfalten zu lassen. Fortsetzung fol^t
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