Film-Photos Wie Noch Nie (Jan-Dec 1921)

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mit Ausnahme Rußlands, wo die Bildung einer neuen geschlossenen Gesellschaft einen neuen großen Theaterstil produzierte. Der soziale Raum, in dem der Film wirkt, ist im Gegensatz zum Theater nicht klassenmäßig begrenzt, sondern unendlich. Durch technische Voraussetzungen ist er weder räumlich noch zeitlich gebunden wie jedes Schau oder Singspiel lebender Menschen. So hat er nicht das Theater von einem Platz verdrängt, auf den es Volksbildner und Volksbünde gern stellen möchten, sondern er nimmt die Stelle ein, die in der vorigen Epoche etwa die Panoptiken, der Zirkus, das Variete usw. innehatten (woher sich die auffallende Vorliebe des Films für diese Milieus erklärt wie auch die Tatsache, daß das Programm der weltstädtischen Kinos häufig mit Varietenummern durchsetzt ist, aber nie mit Schauspielszenen). Der soziale Raum des Films oder, realer gesprochen, das Publikum der Kinos ist die anonyme Masse, die keiner einzelnen Nation, geschweige denn einer bestimmten Klasse angehört. Er ist das Spiel einer unendlichen, undifferenzierten internationalen Gesellschaft: das Schauspiel einer klassenlosen, überstaatlichen Demokratie. Hierauf beruht der Sieg des amerikanischen Films, nicht lediglich auf den materiellen Kräften und Möglichkeiten der Filmindustrie der Vereinigten Staaten. Denn die Bürger jener Staatengruppe sind im Gegensatz zu den in Nationen und Klassen eingesperrten Europäern nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich in einem viel höheren Maße frei, d. h. sozial gleich und psychisch undifferenziert. Sie sind also im Sinne der oben aufgestellten soziologischen Begriffsbestimmung des Films ein ideales Kinopublikum. Von dieser Wesensdeutung des Films ausgehend ist es möglich, seine Inhalte zu bestimmen. Diese sind gegeben durch die Wünsche, Sehnsuchte, Aengste der anonymen Masse, die sein Publikum bildet. Obwohl wissenschaftliche Untersuchungen zu einer Typologie des Films meines Wissens noch fehlen, ist es für jeden Kinobesucher auffallend, auf wie wenige Grundtypen sich die zahllosen Filme ordnen lassen. Es führt zu weit, im Rahmen dieses Aufsatzes eine solche Typologie zu versuchen. Aber es mag angedeutet werden, in welcher Richtung eine solche liegen wird. Das kleine Ladenmädchen erfreut sich nicht wegen ihres Interesses an dem französischen Dixhuitieme an dem Schicksal der Madame Dubarry, sondern weil das Leben, das sich vor ihr maskiert abrollt, den geheimen Wunsch ihres eigenen Daseins erfüllt (der auch als Lady Hamilton, als große Schauspielerin unserer Tage usw. verkleidet sein kann). Sie besieht sich nicht aus Furcht und Mitleid oder wie man sonst das Wesen der Tragödie bestimmt haben mag, das „Schicksal einer Gefallenen", sondern weil der soziale und menschliche Fall, den sie vor sich sieht, auch ihre eigene Angst vor einem Deklassement und bürgerlichen Tod ausdrückt. Was für das kleine Mädchen die Dubarry und die erfolgreiche Schauspielerin ist, das bedeutet für den Mann der Mittelklasse etwa Napoleon oder der Selfmademan unserer Zeit. Schicksale liebt auch er zu schauen, die sich aus den Niederungen seines Daseins erheben. Hieraus ergibt sich die an sich erstaunliche Tatsache, daß der Film die bürgerlichen Milieus der Mittelklasse meidet: er rollt sich über ihnen ab, in den Adelspalästen, Privatbüros der großen Bankiers und Industriellen, den Hallen der eleganten Hotels, den Dancings der internationalen Welt, den unerreichbaren Sphären des Mannes der Straße, und er spielt unter ihnen, in den Verbrecherkellern, den Proletarierwohnungen, den Gefängnissen und Zuchthäusern, den Orten also, die der Kinobesucher ebenso fürchtet, wie er jene begehrt. Die Lokale seiner eigenen Sphäre zeigt ihm der Film lediglich in den Lustspielen und Groteskfilmen, deren soziale Realität durch das Burleske oder Groteske des Spiels aufgehoben wird. 28