Der Kinematograph (December 1912)

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No. 310. Der Kinematograph — Düsseldorf. der sogenannten sensationellen Films der Fall, so ist sie völlig erlaubt und keineswegs zu verwerfen. Werde ich durch einen Zufall Augenzeuge eines sensationellen Ereignisses, sagen wir eines Aviatikerabsturzes, einer Eisenbahnkata¬ strophe. eines Schiffsunterganges jiner Autokarambolage, so bleibe ich unbelästigt von dei Fürsorge der Behörden. Denn die mit eigenen Augen, als Tatsache gesehene ..Sen¬ sation" übt auf mich keinerlei schädlichen Einfluss aus. nur dann ist dieser verderbliche Einfluss gegeben, wenn ich von dem sensationellen Ereignis durel gütige Vermittlung des Films Kenntnis nehme. Wie merkwürdig, in einem solchen Falle ist das eben noch vollkommene unschädliche, wenn auch tiefbedauerliche Vorkommnis sogar imstande, mich an Ja?ib und Seele zu ruinieren, mein Nervensystem völlig zu zerrütten, auf meine Moral die betrübendsten Ausstrahlungen auszuüben, mich bei Rückfälligkeit allmählich von der Stufe eines Ehrenmannes auf die eines verwilderten Apachen herabzudrücken. Eine komische Logik, aber leider immerhin eine Logik! Nun zu einer anderen Bet rach ung! l'nsere liebwerten Gegner sprechen stets mit dem vollsten Brusttöne der Ueberzeugung von der eminenter , das ...Mark" unserer Nation vergiftenden Schädlichkeit des ..Sensationsfilms“. Ei. da muss in ihrem Lager wohl alles in peinlichster Ordnung sein Sehen wir diesbezüglich einmal genauer zu um! fassen wir. um ganzeArticit zu machen, unseren erbittertsten Gegner, die Tagespresse, beim Schopfe. Wie sich der Inhalt unserer modernen Tagespresse zur Zeit darstellt, wäre bei ihr wahrlich mehr als genug Ursache vorhanden vor der eigenen Türe zu kehren. Abgesehen von der Politik, die nach dem Aussprache eines bekannten Dichters ..ein garstig Lied" darstellt, einem wässerigen Romanfeuilleton aus den Federn literarische! 1 Grössen hundertneunzigsten Ranges, geliefert von einer der famosen „Romankorrespondenzen", das Stück für 3—5 Mk., fahndet man in diesen Spalten vergebens nach dem. was auch nur en* nt nach Geist riecht. Gewiss, es gibt rühmliche Aus- nann en, in der Regel aber biingen die modernen Inseraten- schiffe eine Anhäufung von Unfällen, Raubmorden, Eifer¬ suchtsszenen blutiger und unblutiger Natui. Verbrechen Jugendlicher, Defraudationen, H ochst aplerkniffen, Lust¬ morden und Sittiichkeitsverbrechen und als Krone des Ganzen einen mit den rohesten Details ausgeschmückten Gerichtssaal. Das wäre also so im Durchschnitte die „gei¬ stige“ Kost, welche der Durchschnitts-Deutsche in diesen umfangreichen Papieren vorfindet. Noch schöner, noch aus- gebildeter ist der Inseratenteil, da- Rückgrat und die Stütze der wackeren Journale. Was sehen w ir da ? Viele, viele Seiten angefüllt mit markt sc hreieriseben Anpreisungen, offenen und versteckten Kuppeleianzeigen, ungeniertes Feilbieten von „sturmfreien Buden", 'auschigen Absteige¬ quartieren, fein abgefassten um! nur für den Kenner ver¬ ständlichen Anzeigen, welche der Vermittlung widerwärtig¬ ster und eKelhaftcste^Unzuchtdienen. lockendeAnpreisungen von Masseusekünsten und unendlich vieles andere. Du lieber Gott, Geld riecht ja nicht. und dann ist es doch ent¬ schieden bequemer über andere Leute den Stab zu brechen, als sich selbst bei der Nase zu fassen. Ausserdem diese schamlost' Extrablätterwirtschaft, der Anschlag jedes, auch des scheusslichsten Verbrechens an den Ecken der Strassenzüge. Welch erhabene Kulturmission erfüllen solche Maueranschläge bei unreifen gymnasialen Bierjungen oder gar bei dem heranblühenden blonden, deutschen Gretchen! Dergleichen ist beileibe nicht mit dem rohen Namen Volksvergift ung zu bezeichnen, eine solche gibts nur im f t * Kientopp! Aber selbst die Behörden, die am liebsten die keuschen, ahnungslosen Seelen und Leiber unserer heranw achsenden Jugend in Watte und Staniol packen würden, wenn dies nur anginge, beteiligen sich, statt solche Auswüchse ungesunder Sensationslust zu unterdrücken, mit an der Vergift ung des Volkes und der heranwachsenden Jugend. Beweis: nachfolgender Zeitungsausschnitt, welcher nicht etwa vergangenen, kulturfremden Jahrhunderten entstammt, sondern in der Tat in der vorletzten September¬ woche die Spalten der deutschen Presse durchlief: Da in Hamburg in der letzten Zeit fünf Mordtaten darunter zwei unaufgeklärte, vorgekoinmcn sind, hat die Hamburger Polizeibehörde beschlossen, als ab¬ schreckendes Beispiel nach preussischem Muster durch Anschlägen an die Litfaßsäulen usw. von der erfolgten Hinrichtung des Raub¬ mörders Meissner, der am 23. Dezember vorigen Jahres das Ehepaar Ulrich in Süderwisch bei Cuxhaven ermordet hatte. Kenntnis zu geben. Fehlt nur noch die erbauliche Tatsache, dass man dem Kientopp zumutet, die Hinrichtung des Raubmörders einem verehrliehen Publiko und hohem Adel zu Zwecken erbaulicher Abschreckung im Lichtbildc vorzuführen. Das also sind jene Herrschaften, welche ehrenwerte Jjeute der ungesunden Sensationshascherei, der Volks¬ vergiftung und ähnlicher artiger Dinge beschuldigen, dabei aber ihrer selbst spotten und nicht w issen wie. Wozu ferner die ewige Schnüffelei und Spioniererei von seiten derTwges- presse innerhalb der internsten Gemarkungen der Kine- matogrnplienbranehe ! Es ist meines Erachtens müssig über die in der Tat elende Bezahlung deutscher Filmskribenten, deutscher Schauspieler und Schauspielerinnen usw. durch deutsche Firmen die Nase zu rümpfen. Wäre cs nicht besser die Schriftstellei verbände würden sieh mehr um die dringend wünschenswerte Verbesserung der eigenen Honorarverhält - nisse kümmern, als um die anderer Leute ! Als ob die Be¬ zahlung der Mitarbeiter der grossen Tageszeitungen eine gar so glänzende und blendende w äre! Gewiss, cs gibt dies¬ bezüglich einige wenige weisse Raben unter den deutschen ZeitungsVerlegern, der Durelise'mitt aber, Gott soll einem davor bewahren, mit ihm in „Geschäftsverbindung“ treten zu müssen. Soll man nun noch über den nackten, unverhüllten Brotneid der „Kulturbühne“, welcher unter dem zer¬ schlissenen Mäntelchen ..künstlerischen Idealismus" seine eckelhaften Schwären zu verbergen sucht, ein Wörtchen reden ? Es ist besser, man lässt dieses unfruchtbare Thema. In ihrer überwiegenden Mehrzahl sind che Herren Theater¬ direktoren unmöglich ernst zu nehmen und dann, lädt man sich schon einen Gegner auf den Hals, dann wenigstens einen, mit dem sich’s der Mühe verlohnt die Klinge zu kreuzen. Wie steht es nun eigentlich in bezug auf „Sensationen" im Bereiche der Kinematographie ? Nicht schlimmer, wie wo anders auch und namentlich nicht entfernt so schauder¬ erregend wie bei jenen, die sich über den bösen Kientopp die Kehle wund schreien. Einzelne tatsächliche Auswüchse eignen sich nur dazu, die einwandfreie Regel zu bestätigen, zeigen nur, dass die grosse Masse der jeweilig erscheinenden Films allen Anforderungen des guten Geschmacks ent¬ sprechen. Freilich, wo man kräftig hasst, wird eben jeder Quark mit sadistischer Wollust breitgetreten, jede noch so winzige Mücke zu einem riesenhaften Elefanten aufgeblasen, mit der Zensurschere orgiastisch in den Film bändern ge¬ wütet, und dieListe der verbotenen oder zensural zugestutzte i und verwässerten Films erscheint unter dem Ausflusse anmutig entwickelten bureaukratischen Geschmackes (wenigstens bei uns in Bayern), säuberlich eingekeilt zwischen den markanten Typen des Verbrecheralbums, zwischen steckbrieflich gesuchten Mördern, Dieben, Defraudanten. Heiratsschwindlern, Hochstaplern. Sittlichkeitsverbrechern und ähnlichen ehrenwerten Zeitgenossen, im — — — Zentral-Polizeiblatte! Ein allerliebster Beitrag zur Ge¬ schmackskultur unserer Zeit! In Preussen und den übrigen Bundesstaaten mit selbständiger Zensur dürfte wohl schwerlich empfindsameres Taktgefühl vorherrschen. Da man nun doch einmal daran ist mit den erprobten Mitteln einer fernen, kulturwidrigen Vergangenheit zu operieren, wdirde ich den einschlägigen Behörden in aller Ehrerbietung