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Der Kinematograph — Düsseldorf. No. 112. Der Kinematograph ist ein neues Sehorgan, ein er¬ weitertes und verbessertes Auge. Wenn dieses. Organ auch, wie die Kino-Groteske beweist, schöpferisch benutzt werden kann, so liegt seine Bedeutung doch in der Erwei¬ terung unseres Sehvermögens. Die primitiven Sehwerkzeuge, die wir von der Natur erhalten haben, sind nur die Grundlage des Auges der Jetztzeit und niemand, der sich ihrer ausschliesslich bedient, kann sehen im modernen Sinne des Wortes. Wir beobachten Sterne, für deren Licht unser blosses Auge blind ist. wir ge¬ wahren Bazillen, für die unsere Netzhaut optisch zu grob gewoben od«*r zu weitmaschig ist. Aber mit Hilfe des international organisierten Sehorgans, des Kinematographen. sehen wir um die Erdoberfläche herum, in die Strassen von New- York, London und Paris und in die Vergangenheit hinein. Wir vergrössem unseren optischen Horizont oder vernichten ihn. um fast hindernislos das Licht der Welt zu erblicken. Die Fliege hat zweimal sechstausend Augen. Det Butt hat Augen, die spazieren gehen können, aber der Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts hat den Kinemato¬ graphen. Er sieht nicht nur das Sichtbare. Er sieht, was er sehen will. Lebendige Elefanten mit ihrem Wärter auf der Hand eines Kindes und Kriegsschiffe fressende Kaulquappen. Er sieht den Dampfer stille stehen, und das Meer mit der Küste und der untergehenden Sonne schwanken und wackeln Er sieht das Wasser zu Berg fliessen und die Rose aus dem Kehricht erblühen. Er sieht die alte Frau jünger und jünger und das Kind kleiner und kleiner werden, bis es wieder in eine Wiege passt, die Flascl e trinkt und vom Vater an die Hebamme ausgeliefert wird. Er sieht, dass es nichts gibt, was Staufisaugeapparate nicht ver¬ schlingen können. Er sieht da Alpen kleiner ind kleiner werden, bis sie in die Botanisiertrommel Karickens hinein¬ gehen. Er sieht den Mann der sich in einem zeitgemässen Geschäftshaus einen Charakter köpf, wie einen guts tzenden Hut auswählt, mit jedem Kopf spricht, lacht und mimt, bis er den besten gefunden hat. Er sieht den Radfahrer, der überfahren wird und nach der Zusammensetzung seir.er zerstreuten Körperteile dankbar seiner. Hut lüftet und weiterfährt. Er sieht die l'r:Vergänglichkeit und Un¬ verletzlichkeit des Lebens. Er sieht mit dem Auge unend¬ licher Möglichkeiten das Gras wachsen, das Erblühen und Verwelken der Blumen in fünf, drei oder zwei Minuten. Kurz, er sieht ohne Schranke, was er sehen will. Das moderne Auge blickt über den Tod hinaus, in die Vergangenheit hinein, um den Zahn der Zeit herum. Es sieht rückwärts und vorwärts. Es sieht das Tote lebendig und das Lebendige tot. Das Reich des Todes grenzt nicht mehr unmittelbar an das Leben. Für unser Auge hat Leo XIII. noch nicht aufgehört, in seiner milden Weise zu lächeln, vor uns zu beten und uns seinen päpstlichen Segen zu erteilen. Das Reich des Todes grenzt an den Kinematographen und an das Grammophon. Die Erinnerung hat aufgehört abhängig zu sein von jener schmutzig-weisslichen Masse, die wir Hirn nennen und deren Funktionen unkontrollierbar sind. Der moderne Mensch erinnert sich nicht mehr. Er sammelt und verwendet Kinogramme. Klio, die Muse der Geschichte, hat aufgehört, geistig tätig zu sein, die Ereignisse stenographisch oder mit der Schreibmaschine in das Buch der Geschichte ein¬ zutragen. Klio dreht an der Kurbel des Kinematographen und bedient den Phonographen. Historie wird mechanisch mit jener Objektivität hergestellt, zu der nur das Objektiv fähig ist und mit jener Präzision, die von einer Monarchenbewegung auch nicht die Bücklinge des kleinsten Grashalms der Ewigkeit vor¬ enthält. Der Mensch altert, die Kräfte schwinden, die Anmut geht dahin, die Perioden des Glanzes, die Tage künstlerischer Höhe, die Wonnemonde und! die Flitterwochen vergehen, wie Gedichte, die niemals geschrieben, w ie Bilder, die niemals gemalt und wie Statuen, die man in Marmor zu meissein vergass. Was wissen wir. w ie Mozart seine Sonaten spielte ? Wie schnell verwischt sich die Erinnerung an unsere eigene Zeit der Jugend, der Tollkühnheit, und wie ausschliesslich dokumentierte sich die Konst vergangener Grössen de* Schauspiels in dem. was unsere Augen nicht sahen und unsere Ohren nie hören werden. Das 'anmutige Spiel der jugendlichen Liebhaberin ist heute auf den Film gebannt von ebenso dauerhafter Konstitution wie etwa die Pyramiden Aegyptens, und es ist so reproduktionsfähig wie irgend ein Gegenstand der bildenden Kunst. Das anmutige Spiei der jugendlichen Liebhaberin kannst Du in Deiner Ueberziehertasche mit nach Amerika nehmen. Du kannst es im Falle eines Schiff¬ bruches einer gut verkorkten Flasche anvertrauen. Du kannst es der Post übergeben. Du kannst es vervielfältigen lassen und in einzelnen Exemplaren verkaufen. Das an¬ mutige Spiel der jugendlichen Liebhaberin ist eine sub¬ stantielle Erscheinung, eine handgreifliche Sache geworden, ähnlich wie ein Spazierstock. eine Petroleumkanne oder eine Zigarrenkiste. 'Bewahre diesen Film vor Feuer und Wasser, und das anmutige Spiel der jugendlichen Lieb¬ haberin wird seine Anmut, den Reiz seiner Jugend und die Liebhaberin seihst nie verlieren. Die Schauspielerin ist längst zur bildenden Künstlerin geworden. Sie malt das Bild ein >r Rolle einmal und überlässt die Reproduktion billigeren Kräften. Sie malt ihre Rolle für die Ewigkeit, nicht vor einem Publikum. Sie nimmt sich Zeit zu ihrem Gemälde, ersetzt schlechte Teile durch bessere, kurz, sie hat alle Vorteile* der bildenden Künste. ^Unsere einzigartige Kunst. Couplets schmetternd nach Noten vorzutragen, ist unvergänglich und wird auch noch die Kinder unserer Urenkel amüsieren. Das sind die Nach¬ teile der bildenden Kunst uni der optischen Umgehung des Zahnes der Zeit, der Präzisionshistorie und der Patent- Erinnerung. Das Vergessen wird schwierig. Rom kann verbrennen die Kapella Sixtina vom Erdbeben vernichtet werden. Aber die kinematographierten H->chzeit.-reisenden, die die Stille des Vatikans dazu benutz ten. sich Pralines in den verliebten Mund zu stecken, werden sieh die Süsse der jungen Liebe und der Pralines nie ver säuern lassen. Es geht ihnen wie den Heringen, die wir schon lange gegessen haben, und die noch nach tausend Jahren gefangen werden und auf den Decksplanken der Fischerei-Kutter zappeln können. Aber von all dem Segen, den der Kinematograph über die Kunst, über die Wissenschaft, über Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft schüttet, erhält den Löwen¬ anteil der Mann von der Strasse. Der Mann von der Strasse hat nicht jene oft so unan¬ gebrachte Scheu vor öffentlichen Lokalen und Knnstin stituten, die seine Mitbürger vielfach veranlasst, in schwarzen Kleidern zu erscheinen, ein reines Vorhemd za zeigen und stundenlang'nicht zu rauchen. «.-s-Von der Arbeit oder von einem einfachen Mahl, be¬ stehend aus Kartoffeln und warmer Wurst, kommend, betritt er das Theater in dem Bewusstsein, seine Pflichten hinter sich zu haben, den Hut auf dem Kopfe, die Zigarre im Munde und die Hände in der Hosentasche. Das Bewusst sein seines Wertes heisst ihn auf die ganze Kunst zu ver zichten. wenn sie ihm nicht gestattet, die volle Würde seiner Persönlichkeit zu entfalten, die Pfeife des Feierabends zu rauchen um! den steifen schwarzen Hut tief auf die Stirne herunterzudrücken. Der Mann von der Strasse, der Repräsentant einer ernst zu nehmenden Volksschicht, verlangt viel von der Kunst. Nicht in dem billigen und unsozialen Sir ne der Hyperästheten! Er verlangt das Moralische oder das Un sittliche. Aber beider- recht kräftig und massig