Licthbild-Bühne (November 1912)

Record Details:

Something wrong or inaccurate about this page? Let us Know!

Thanks for helping us continually improve the quality of the Lantern search engine for all of our users! We have millions of scanned pages, so user reports are incredibly helpful for us to identify places where we can improve and update the metadata.

Please describe the issue below, and click "Submit" to send your comments to our team! If you'd prefer, you can also send us an email to mhdl@commarts.wisc.edu with your comments.




We use Optical Character Recognition (OCR) during our scanning and processing workflow to make the content of each page searchable. You can view the automatically generated text below as well as copy and paste individual pieces of text to quote in your own work.

Text recognition is never 100% accurate. Many parts of the scanned page may not be reflected in the OCR text output, including: images, page layout, certain fonts or handwriting.

Seite 26 L • B ■ B No. 46 nisses entläßt einen Gestrauchelten, dem die Freiheit genommen wurde, da er in schwachem Augenblick das Ge¬ setz mißachtete. Müden und schleppen¬ den Schrittes ist der Arme hinausge¬ stoßen in die sonnige Freiheit, die ihm keine Freude bietet. Ein Brief ist sein Hoffnungsstrahl. Er liest, daß seine Schwester, die Frau eines wandernden Menageriebesitzers, in der Nähe weilt und ihm helfen will. Er soll bei ihrem Manne um Arbeit bitten, ohne daß er sich zu erkennen gibt, denn sie hat we¬ nig Hoffnung, daß ihr Mann wohl einem Fremden als ehemaligen Sträfling, nicht aber ihrem Bruder als solchen helfen würde. Welch ein Wiedersehen zwischen Bruder und Schwester! Bald wird er vom Chef mit den obliegenden Arbeiten bei den wilden Tieren vertraut ge¬ macht. Er hat eine Brotstelle, um den Hunger zu stillen, und dankbar drückt er heimlich der Schwester die Hand. Die hingebende Geschwisterliebe beider bleibt aber dem Manne nicht lange ver¬ borgen. Er argwöhnt, daß der Arme es wage, seine Augen zur schönen Frau Direktor zu erheben. Ein entsetzlicher Rachegedanke wird zur Tat: der wilde, unbezähmbare Ma- layenbär, das gefürchtetste Raubtier der Menagerie, soll den Frechen zer¬ reißen. Vorsichtig öffnet er die Käfig¬ tür. Der schwarze Geselle stürzt beute¬ gierig hinaus. In der Nähe spielt nichts¬ ahnend das blonde kleine Mädchen, das Töchterchen des Hauses, der Sonnen¬ schein im engen Wohnwagen der ruhe- und heimatlosen Schausteller. Der mächtigste Impuls im Weibe ist die Kindesliebe. Sie sieht den beutegieri¬ gen Bären in gefährlicher Freiheit und flüchtet mit der kleinen Last vor dem drohenden Tode. Eine tiefe Schlucht birgt vor ihr das Verderben und hinter ihr kommt der Tod angehetzt. Drei beherzte Männer, kraftvolle, edle und schnell entschlossene Helfer, bilden eine lebende Brücke, bieten ihre Rücken dem flüchtenden Weibe als schwankenden Steg dar. Mutter und Kind sind geretett. Ein Bravo den Wackeren, die sich als ganze Männer gezeigt. Plötzlich stockt auf sicherem Boden ihr Fuß. Rückwärts denkt sie, wo dem armen Bruder der sichere Tod winkt, denn der wilde Bär in der Frei¬ heit sucht sein Opfer. Ein Schimmel grast ohne Sattel und ohne Zaumzeug auf der Weide. Kurz entschlossen besteigt sie als kühne Rei¬ terin den edlen Renner und mit fliegen¬ dem Atem geht es zurück zur gefähr¬ deten Stätte, um den Bruder zu retten. Da sieht sie das Raubtier, das zähne¬ fletschend sich ihr nähert. Sie flüchtet sich in den Wohnwagen, hat in höchster Todesgefahr gerade noch Zeit, ein Ge¬ wehr an die Wange zu legen, ein kurzes Zielen, ein Schuß, und der kraft¬ strotzende Bärenkoloß wälzt sich zuckend am Boden. Lange währt der Todeskampf der Bestie, dann sucht die fast Erschöpfte den Bruder, ob er der Bestie entronnen. Nicht weit von der schaurigen Stätte liegt er im röchelnden Todeskampf — ein Opfer des Beute¬ gierigen. Sie wirft sich laut aufschluch¬ zend auf den Sterbenden, da tritt aus dem Hintergründe der Mann und ruft ihr die Anklage zu. „Mein Werk, Du Treulose!“ In zerrissenen Silben aber kommt es schluchzend von ihren beben¬ den Lippen: „Es war mein Bruder!“ Der tief ergriffene Beschauer hat im Meisterfilm des Lebens schwerste Tra¬ gödie kennen gelernt. Professor Dr. Brunner. Ehemaliger Schulmann. — Pädagogischer Beirat der Berliner Film-Zensur-Behörde. — Fachmann für die Kindes- psyche. — Wanderredner. in ganzes Programm leuchtet uns entgegen. Das Charakteristikum _der heutigen Zeit. Die neue Richtung in der polizeilichen Fürsorge. Die armen Berliner Kino-Kinder stehen unter dem zweifelhaften Schutz des Herrn Professors Dr. Brunner, der sie ängstlich bewahren will vor dem gif¬ tigen Pesthauch der dramatischen Films. Diese „sensitiven“ Berliner Kinder, die in der jungen, kräftig pulsierenden Großstadt mit offenen Augen alles sehen und alles wissen, und dadurch gerade die beste Anwartschaft haben, echte, rechte Menschen zu werden, ohne daß sie durch falsche Erziehung plötzlich den großen Rätseln des Lebens gefährlich verständnislos gegenüber¬ stehen, mit denen steht es jetzt schlimm, denn ihren „zarten Seelchen“ wird jetzt mimosenhaft alles verschlossen, was natürliches Leben bedeutet. Leider steht Herrn Professor Dr. Brunner am grünen Tisch nur der Kino-Film zur Verfügung, wobei das stereotype „Für Kinder verboten!“ fast bei allen Dramen Trumpf ist. Dem übereifrigen Zensor steht leider aus Interesse für die ge¬ fährdete Berliner Jugend nicht das Ver¬ botsrecht für die Straße, die Schau¬ fenster, die Zeitungen, das Theater, Va¬ riete, das Familienheim mit dem Schlaf¬ stellenwesen usw. zur Verfügung, sonst würden aus den klar und vernünftig denkenden Berliner Kindern schon längst schattenlose Wesen geworden sein, die weltfremd später in ihrem Un¬ verstand direkt der Gefahr ausgeliefert sind. Es fehlt ihnen dann die Urteils¬ kraft von Gut und Böse, die Immunität. Als ehemaliger Schulmann wurde Herr Professor Dr. Brunner nach dem Polizei-Präsidium als pädagogischer Bei¬ rat berufen; die für Kinder verbotenen Films nehmen in erschreckendem Maße zu und das Kinotheater wird dadurch den Kindern verschlossen. Soll sich das die Kino-Industrie länger gefallen lassen? Herr Professor Dr. Brunner ist ein geschworener Feind des Kino-Dramas. Unzählige Male hat er als Wanderred¬ ner in seiner amtlichen Eigenschaft dem Drama jede Existenzberechtigung abgesprochen. Mit welchem Recht? Was sagt die Vorgesetzte Behörde da¬ zu? Hat die Behörde nicht die Pflicht, in dieser rein ethisch-künstle¬ rischen Frage die Lösung dieses Be¬ stehens Anderen zu überlassen? Wo bleibt die Objektivität? In Halle tagte vor einigen Tagen der Deutsche Sittlichkeitsverein; für